Über das Schmerzempfinden von Männern und Frauen ranken schon immer Mythen und Märchen. Hinter mancher Aussage stecken Beobachtung, Vermutung oder auch Zeitgeist. So gelten Männer traditionell als zäh und robust in Bezug auf Schmerzen, da sie als Jäger zahlreichen Gefahren ausgesetzt und an Schmerzen gewöhnt waren. Heute wird jedoch vielfach der «Männerschnupfen» zitiert, um die Wehleidigkeit des männlichen Geschlechts zu untermauern. «Wenn Männer Kinder auf die Welt bringen müssten, wären Menschen bereits ausgestorben» – das ist wohl mit Abstand der härteste Vorwurf, der von Frauen gemacht wird. Ist das Schmerzempfinden also eine gesellschaftliche Frage oder ist es medizinisch zu erklären? Gibt es in Bezug auf ihr Schmerzempfinden überhaupt Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Mit dem Ende der 1990-Jahre veröffentlichten Bundesgesundheitssurvey1 begann das Zeitalter der geschlechtsspezifischen Schmerzforschung.   

Demnach sind Schmerzen generell eine weit verbreitete Missempfindung im Alltag. Jedoch sind Frauen häufiger von Schmerzen betroffen als Männer. Innerhalb von einem Jahr gaben 12% der Männer an, keine Schmerzen gehabt zu haben, aber nur 6% der Frauen. Nun könnte dies an unterschiedlichen Einschätzungen liegen. So ist es aber nicht. Einer, der sich täglich mit diesem Phänomen beschäftigt, ist Professor Dr. Hartmut Göbel. Er ist Neurologe und Facharzt für spezielle Schmerztherapie, Diplom-Psychologe und Chefarzt der Kieler Schmerzklinik. Bei ihm zeigt sich in der Praxis ein noch deutlicheres Bild: 70% der Behandelten sind Frauen, nur 30% Männer.

In Bezug auf die Art der Schmerzen gibt es verschiedene Beobachtungen. So kommt Spannungskopfschmerz bei beiden Geschlechtern gleich häufig vor. Aber die Migräne ist eindeutig eine Erkrankung der Frau. Genauso ist es bei Rücken- und Nackenschmerzen – ein Frauen-Ding –, wobei besonders Nackenschmerzen bei Frauen häufiger sind.2 Einer aktuellen Befragung2 des Robert-Koch-Instituts zufolge haben in den vergangenen 12 Monaten 66% der Frauen Rückenschmerzen (Männer: 56,4%) erlitten und 54,9% (Männer: 36,2%) Nackenschmerzen.

Anatomie, Kopfsache oder Hormone

Die Ursachen der unterschiedlichen Schmerzempfindung werden wissenschaftlich breit diskutiert. Es scheint nicht nur eine einzige körperliche Komponente mit Einfluss auf das Schmerzempfinden zu geben. Anatomisch ist festzuhalten, dass Frauen über weniger Muskulatur und Muskelkraft verfügen als Männer. Das könnte eine Rolle spielen. Ganz sicher ist sich die Forschung bei den Unterschieden in Bezug auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerzen. Gehirnscans mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) haben ergeben, dass das männliche und weibliche Gehirn bei gleichen Schmerzreizen unterschiedlich reagiert: Bei Frauen wird das limbische System, das für die gefühlsmässige Tönung von Schmerzen verantwortlich ist, stärker aktiviert als bei Männern. Das männliche Gehirn zeigt bei Schmerzreizen eine erhöhte Aktivität in den kognitiven und analytischen Bereichen der Wahrnehmung.

Ganz offensichtlich spielen auch die Geschlechtshormone eine bedeutende Rolle: Hormonelle Veränderungen während der Schwangerschaft führen zu einer Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Das Nervensystem der Frau scheint unter Einfluss der Hormone darauf ausgerichtet zu sein, die Frau unter der Schwangerschaft und Geburt maximal vor Schmerzen zu bewahren. Besonders vor Migräne sind Frauen «in anderen Umständen» geschützt. Prof. Göbel kann auch davon berichten, dass Frauen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, durch die Therapie mit Testosteron nun deutlich weniger Schmerzen empfinden. Dabei scheint nicht der absolute Hormonspiegel relevant zu sein, sondern vielmehr die Hormonschwankungen, wie das italienische Team Pieretti et al in einem Review herausarbeitet.3

Geringere Schwellen für Druck und Hitze

Die deutsche Schmerzgesellschaft e. V. geht davon aus, dass Frauen beim Verabreichen eines Hitze- oder Druckreizes die Schmerzintensität höher einschätzen als Männer.4 Sie halten den Schmerz weniger lange aus und ziehen z.B. den Arm nach einem Schmerzreiz früher weg als Männer, obwohl der Schmerzreiz gleich stark war. Die Schmerzsensoren scheinen bei Frauen empfindlicher eingestellt zu sein.

Frauen reden anders darüber

Männer und Frauen haben aber nicht nur ein unterschiedliches Schmerzempfinden. Sie reden auch anders darüber. Während es Männern oft peinlich zu sein scheint, Schmerzen zu zeigen, berichten Frauen früher über Angst und Irritation und kommunizieren dies ihrer Umwelt. Frauen beschreiben eher was der Schmerz für Sie bedeutet, wie er sie einschränkt. Männer machen sich hingegen eher zu Experten der Ursachen: Sie beschreiben den Schmerz und erklären, woran es liegt.

Für den klinischen Alltag wichtig

Die meisten Frauen sind daher auch eher bereit, sich helfen zu lassen. Sie suchen Unterstützung, nehmen eher Medikamente ein und gehen früher zum Arzt, stellten schottische Wissenschaftler fest.5 Männer ignorieren den Schmerz häufiger und interpretieren die Ursachen um. Sie versuchen das Problem selbst zu lösen. Erstaunlicherweise werden Frauen in der Schmerztherapie dennoch oft nicht ernst genommen. Jammern sie zu häufig? Für den klinischen Alltag heisst es in jedem Fall, bei Frauen genau hinzuschauen. Sie empfinden Schmerzen tatsächlich häufiger und stärker. Für Männer gilt: Öfter mal nachfragen, wo der Schuh drückt, einfach so, ohne Anlass. Eine frühe und effektive Therapie mit einfachen Mitteln kann einer Chronifizierung vorbeugen.

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Der kleine grosse Unterschied von A bis Z: 10 Erkenntnisse der Gender-Medizin

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Hofmann, Annegret und Rolf

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Döll, Michaela

Frauenherzen schlagen anders: Warum Frauen in der Medizin falsch behandelt werden und wie sie die richtige Therapie bekommen. Das Buch zum Thema Gender-Medizin.

mvg Verlag 2020

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Vera Regitz-Zagrosek, Stefanie Schmid-Altringer

Gendermedizin: Warum Frauen eine andere Medizin brauchen.

Scorpio Verlag, 2020

Englisch

Donatella Lippi, Raffaella Bianucci, Simon Donell

Gender medicine: its historical roots.

Postgraduate Medical Journal, 2020 Aug;96(1138):480-486

Englisch

Marek Glezerman

Gender Medicine.

Duckworth Overlook, 2017

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Amber Dance

Why the sexes don’t feel pain the same way.

Nature 567, 448-450, 2019 

Französisch

Jaunin-Stalder, Nicole und Mazzocato, Claudia

Hommes et femmes: sommes-nous tous égaux face à la douleur?

Revue Médicale Suisse 2012;348

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Vidal, Catherine und Salle, Muriel

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